Von Schleusen und Schnecken
Der Tag beginnt mit einem Abenteuer. Unter einem grauen Himmel führt der Kanal durch das Industriegebiet von Chalon-sur-Saône auf die Schleuse Nummer 34 zu - das Zehnmetermonstrum. Die Ampel steht auf Rot. Wir machen fest und gehen zu Fuß auf die gewaltige Anlage zu. Gerade werden zwei andere Schiffe nach oben geschleust, wir können nach unten schauen.
“J’ai peur!”
Senkrecht fallen die nassen und glitschigen Wände in die Tiefe ab, unsere Stimmen hallen in dem engen Schacht. “Ich will da nicht rein”, sagt Lotti und auch ich bekomme mächtig Respekt. Zehn Minuten später ist es soweit. Die beiden anderen Schiffe schieben sich an uns vorbei und wir tuckern langsam hinein. “J’ai peur”, gesteht Anna dem netten Schleusenwärter, der uns assistiert. Der lächelt uns Mut zu und meint: “Ne vous inquiétez pas!”.
Zehn Meter können verdammt hoch sein. Es ist kalt hier unten. Wir wollen raus auf die Saône!
Nun gut. Wir machen fest und schon beginnt das Wasser zu sinken, rasch wird der Himmel immer kleiner, es wird kälter. Ein bisschen unheimlich ist es schon, aber es geht rasch vorbei. Schon hebt sich vor uns das riesige Eisentor und wir nehmen Kurs auf den Fluss Saône. Das ist ein anderes Kaliber als der beschauliche Canal du Centre. Bestimmt 100 Meter breit fließt er durch die Landschaft. Riesige Kreuzfahrtschiffe kommen uns entgegen, wir müssen ausweichen.
Frankreich meint es heute mal wieder gut mit uns, denn sobald wir uns der Stadt nähern, reißt der graue Himmel auf und die Sonne wärmt uns. Wir machen fest und wollen die Stadt erkunden.
Das Leben meint es gut mit uns. Auf ins Zentrum von Chalon-sur-Saône!
Wir lassen uns treiben, sind gespannt auf kulinarische Entdeckungen. Denn das haben wir schon in den ersten beiden Tagen gelernt: Auf dem Hausboot muss man es nehmen, wie es kommt. Und deshalb gönnen wir uns auf dem von Fachwerk umgebenden Marktplatz ein Glas Wein, die Kinder bekommen ein Eis. In einem kleinen Laden kaufen wir etwas Käse, Tomaten und Salami. Alles aus dem Burgund.
Mittags gegen zwölf Uhr in Chalon-sur-Saône. Wir nehmen uns an den Einheimischen ein Beispiel.
Erfrischt und gestärkt gehen wir wieder an Bord und nehmen Kurs auf Tournus, wo wir heute übernachten wollen. Die Saône fließt breit und ruhig dahin. Fine übernimmt das Steuer, ich sitze neben ihr. Anna kommt nach oben, bringt Käse, Wurst, Obst, Wein und Brot. Tournus ist eine schöne Kleinstadt, bekannt für ihre alte Klosteranlage, weniger für Kulinarik. Die Kinder toben umher, wir studieren die Karten der umliegenden Restaurants. Nichts dabei, was uns reizt - das ist eben auch Hausboot. Man muss nehmen, was man bekommt. Das ist manchmal sehr viel und manchmal wenig. Deshalb ist es gut, wenn man bei jeder Gelegenheit die Vorräte an Bord im Auge hat. Dann lässt es sich in der gut ausgestatteten Bordküche wunderbar kochen.
Die Croissants und die Liebe
Wir beginnen wir den nächsten Tag mit einem ausführlichen Einkauf - selbstverständlich erst, nachdem wir in einem Café Croissants und Pains au Chocolat verputzt haben. “Warum sind die Croissants in Frankreich eigentlich so viel besser als in Deutschland”, frage ich den bärtigen und tätowierten Bäcker. “Ganz einfach”, sagt er und lacht. “Wir backen sie mit ganz viel Liebe.”
Hier frühstücken wir. Und eins muss mal gesagt werden: Wir lieben Tournus!
Nach dem Frühstück besuchen wir in dieser Reihenfolge:
Metzger - für Pâté, Salami und eine Schneckencreme
Käseladen - für regionalen Käse
Weinladen - für Chardonnay aus dem Burgund
Gemüseladen - für alles, was hier gerade reif ist, etwa Feigen und die ersten grünen Bohnen sowie die letzten Nektarinen und Pfirsiche
Bäcker - für Quiche und Baguette
Seille und Schnecken
Schwer bepackt entern wir das Boot und lösen nach einem kurzen Imbiss die Leinen. Ein paar Kilometer später biegen wir auf das Flüsschen Seille ab und sind sofort verliebt. Schmal und kurvig windet sich das Wasser zwischen Bäumen hindurch. Gerade mal vier Schleusen warten hier auf uns, drei davon im Handbetrieb. Also zum selber Kurbeln.
Unserem Mittagsimbiss fiebern wir entgegen, denn wir wollen die regionale Spezialität vom Metzger probieren, die Schneckencreme. Schnecken gelten heutzutage als besonders fein, doch das war nicht immer so. Es kursiert folgende, schöne Anekdote über dieses Gericht: Die Legende besagt, dass der französische Diplomat Charles-Maurice de Talleyrand, ein einflussreicher Akteur zur Zeit Napoleons, eine entscheidende Rolle dabei spielte, Schnecken als Delikatesse in der französischen Küche zu etablieren.
Im Jahr 1814, nach Napoleons Sturz, veranstaltete Talleyrand ein prächtiges Festessen in Paris zu Ehren von Zar Alexander I. Doch die Vorräte waren erschöpft, und die Zeit drängte. Der kreative Koch entschloss sich, Weinbergschnecken zu servieren – aber nicht einfach so! Er veredelte sie mit einer köstlichen Mischung aus Butter, Knoblauch, Kräutern und Petersilie. So entstanden die berühmten "Escargots à la Bourguignonne".
Manchmal müssen wir uns selber kneifen. Wir leben gerade unseren Traum!
Der Zar war von diesem erlesenen Gericht begeistert und lobte es in den höchsten Tönen. Diese Anerkennung katapultierte das Gericht in den Mittelpunkt der französischen Gastronomie und machte Schnecken schnell populär.
So wurden Schnecken von einer schlichten Speise zu einem Symbol für kulinarischen Luxus und Tradition in der französischen Haute Cuisine – eine wahre Delikatesse, die bis heute geschätzt wird.
Ein großer Schluck Chardonnay hilft
Werden wir das auch? Bei Sonnenschein auf Deck öffnen wir das Glas, schnuppern. Die Creme riecht wie frische Schnecken im Restaurant - irgendwie fleischig mit jeder Menge Petersilie und Knoblauch. Die Kinder verziehen angewidert die Gesichter, Anna und ich probieren. Schmeckt intensiv, würzig und nach sehr viel Knoblauch. Mit einem großen Schluck Chardonnay hinterher gar nicht mal so übel!
Jeder noch so kleine Hafen hat einen Hafenmeister. Und weil die Franzosen eben Franzosen sind, nennen sie diesen stets liebe- und achtungsvoll Capitaine.
Die nächsten beiden Tage dümpeln kulinarisch so vor sich hin. In Bragnes erhoffen wir uns viel vom Besuch des jährlichen Dorffestes. Ein großes Zelt ist aufgebaut. Ältere Frauen stehen an den Töpfen, aus denen es köstlich duftet. Wir sehen uns schon an den Tischen sitzen, einen Teller mit Eintopf vor uns, dazu ein Glas Rotwein. Aber nein. Man sagt mir, wir hätten vorher reservieren müssen. Wir könnten uns aber mit Bier satt trinken, schlägt mir lachend eine weißhaarige, drahtige Madame vor. Nach meinem Einwand, das sei für die Kinder wohl keine so gute Idee, hält sie sich vor Lachen den Bauch.
Auf in die Heimat des Bressehuhns
Also improvisieren wir an Bord. Kein Problem, denn vom nächsten Tag erhoffen wir uns viel. Wir steuern Louhans an, die Heimat und Hauptstadt des berühmten Bressehuhns. Was wir dort auf der Suche nach dieser Spezialität erleben, das schreibt Anna in einem extra Artikel auf…
Disclaimer: Wir haben das Hausboot von Locaboat umsonst zur Verfügung gestellt bekommen.