Der heilige Charles und die verzweifelte Suche nach einem Liegeplatz

Am Morgen in Louhans werden wir melancholisch. Denn hier geht es nicht mehr weiter. Die Seille wird zu einem winzigen Fluss, auf dem keine Schiffe fahren können. Wir müssen also zurück und es liegt ganz schön viel Strecke vor uns. Das Wetter schlägt vollends um: Es ist Herbst. Die Wolken sind dunkel, immer wieder regnet es. Auf der letzten Schleuse zwischen der Seille und der Saône hat der Schleusenwärter seinen Kragen hochgezogen und sich in seine dicke Jacke gepackt. 

Wir machen noch einmal in unserer Lieblingsstadt auf der Reise, in Tournus, fest, um einzukaufen. Und dieser Einkauf hält einen gänzlich unerwarteten kulinarischen Höhepunkt bereit, eine ganz besondere Spezialität. Der Metzger schlägt sie mir in dickes, weißes Papier ein. “So 20 bis 30 Minuten, dann ist sie fertig”, sagt er. Ich freue mich schon jetzt auf die Gesichter meiner Familie. Doch bis dahin soll es dauern. Wir haben die Strecke nach Chalon-sur-Saône unterschätzt. Mit jedem Kilometer wird es kälter. Erst gegen Abend erreichen wir die Stadt. Zu spät. Alle Liegeplätze am Fluss sind belegt. Bis auf einen. Und wir missachten alles, was wir in den vergangenen Tagen über das Ergreifen von Chancen gelernt haben. Wir können uns nicht entscheiden, vielleicht gibt’s in dem kleinen Hafen hinter der Flussinsel ja doch noch einen schöneren Halt…gibt es nicht. Und als es mit einem Mal heftig zu regnen beginnt, legt ein anderes Boot am letzten freien Liegeplatz an. 

Uns bleibt nichts anderes übrig, als im strömenden Regen und einsetzender Dämmerung weiter flussaufwärts zu fahren. Auf unserer Flusskarte ist dort ein Halt in der Natur eingezeichnet. “Wo ist denn dieser verdammte Halt,” schreit Anna gegen den Wind. Sie hat die völlig durchnässte Karte in der Hand und versucht gleichzeitig mit dem Handy den Platz zu orten. Das Ufer ist dicht bewachsen. Von Pollern keine Spur. 

Ich versuche, den Kindern meine Unruhe nicht anmerken zu lassen

Inzwischen ist es so dunkel, dass ich die Positionslampen am Schiff anschalte. Wir müssen umdrehen, nass, müde und hungrig.  Und allmählich mache ich mir Sorgen. Wir dürfen nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr fahren. Aber was tun wir, wenn wir keinen Platz zum Anlegen finden?

Eine letzte Chance gibt es noch. Wir biegen wieder in den Canal du Centre ein und fahren durchs Industriegebiet auf die Zehnmeterschleuse zu. Direkt davor ist eine Anlegestelle. Ich weigere mich darüber nachzudenken, was ist, wenn dort andere Boote liegen. Inzwischen ist es so dunkel, dass ich den Außenstrahler anschalte. Dunkel ragt die gewaltige Schleuse über uns auf - und an dem Ponton davor? Da ist tatsächlich noch ein freier Platz. Nie kam uns ein Ort schöner vor.  Erschöpft binden wir das Boot fest und ich stelle mich sofort in die Küche.

Jetzt haben wir nur noch eins: Hunger!

Ich schäle und schneide Kartoffeln klein, gebe sie in einen Topf mit kaltem Salzwasser und einem Lorbeerblatt. Als das Wasser kocht, schlage ich vorsichtig das Papier aus der Metzgerei auf. Darin liegt eine unterarmlange Saucisson à cuire - eine Kochwurst. Ich gebe sie in das blubbernde Wasser und füge nach und nach Karotten, Fenchel und weiße, dicke Bohnen hinzu. Nach einer halben Stunde, als ich den Topf auf den Tisch stelle, duftet es im ganzen Schiff köstlich. Anna legt sich die Wurst auf den Teller und schneidet hinein. Mit einem Schmatzen läuft heißes Fett hinaus, vermischt sich mit der Suppe, umhüllt die Kartoffeln, gibt den Karotten den geschmacklichen Kick. Göttlich.

Los geht's! Unter trübem Himmel den Canal du Centre aufwärts.

Am nächsten Morgen liegt ein Marathon vor uns. Elf Schleusen wollen bewältigt werden. Das kostet Zeit und Energie. Wir legen noch vor dem Frühstück ab und freuen uns auf frische Croissants in Fragnes. Doch genau an diesem Tag hat der Bäcker geschlossen. Wir essen das restliche Baguette. Dann haben wir kein Brot mehr. Weiter gehts, Schleuse für Schleuse arbeiten wir uns den Canal du Centre empor. Der Himmel ist grau, die Temperatur kühl. Der Hunger wird immer größer. Endlich erreichen wir Chagny. Eigentlich wollten wir einkaufen und an Bord kochen. Ich hatte von einer Matelote geträumt, einem traditionellen Fischeintopf oder einer Oignonade auxonnaise, einem Zwiebelgericht, das mit geröstetem Brot und Kartoffeln gereicht wird. Doch die Geschäfte haben bereits geschlossen. Beim Gedanken an Nudeln mit Tomatensoße - die gäben unsere Vorräte noch her - rümpfen wir alle fünf die Nase. Also Essen gehen!

Immer gut: die Einheimischen fragen

Zum Glück für unsere Reisekasse hat der Dreisterner im Ort, das Lameloise, heute erneut geschlossen. Gegenüber liegt ein einfaches Restaurant, das typische Gerichte der Region anpreist: Froschschenkel, Coq au vin und Boeuf Bourguignon. Der Gastraum ist leer, bis auf ein sich unter Neonlampen anschweigendes Paar - kein gutes Zeichen. Ich gehe in die Bar nebenan und frage den Chef, wo man hier denn was Gutes essen könne. “Also dort” - er deutet mit dem Kinn aus das leere Restaurant - “werdet ihr schon was finden. Ich aber würde es um die Ecke im “Le Grenier à sel” versuchen.”

Innenraum des Grenier a Sel

Hier fühlen wir uns sofort wohl.

Wir machen uns auf den Weg, treten ein durch eine schwere, dunkle Holztüre und verlieben uns sofort in diesen Ort. Ein altes Gemäuer mit hohen Decken, darin mehrere einladende Tische aus dunklem Holz. Und das Beste: Ein offenes Feuer an dem Chef Kevin grillt. Fünf Personen? “Pas de probleme”, wir bekommen den letzten Platz und sind glücklich. Der Service ist schnell und aufmerksam, ich esse einen Lammspieß, Anna einen mit Geflügel, die Kinder freuen sich über Burger und Pommes. Der Rotwein aus dem Nachbardorf ist weich und samtig, genau so einen braucht man an einem Abend wie diesem, wenn man müde und erschöpft ist und draußen der Herbstregen einsetzt.

Als wir am nächsten Morgen ablegen, sind wir sehr froh, Chagny eine zweite Chance gegeben zu haben. Heute Nachmittag müssen wir zurück sein in Saint-Léger-sur-Dheune und unser Boot abgeben. Davor liegt noch ein kulinarischer Zwischenstopp, auf den wir uns sehr freuen: Der Wochenmarkt in Santenay, einem Winzerdorf direkt neben dem Kanal.

Wegweiser mit Centre Ville im Burgund

Santenay wir kommen!

Im strömenden Regen machen wir fest, im strömenden Regen machen wir uns auf den Weg. Straßenschilder weisen den Weg zu berühmten Dörfern des Burgund. Nach Chassagne-Montrachet sind es gerade mal vier, nach Meursault elf Kilometer. Für uns zu Fuß unerreichbar. Die Kinder haben keine Lust auf solche Märsche, wir eigentlich auch nicht. Also nehmen wir mit Weinen aus Santenay Vorlieb.

Époisses und Soumaintrain

Auf den ersten Blick ist der Markt eine Enttäuschung: ein Fischhändler, der auf Kunden wartet, ein Gemüsestand, der hauptsächlich Zwiebeln verkauft, eine alte Dame mit selbstgekochter Marmelade. Und Jean-Jaques mit seinem Käsewagen - “aber alle nennen mich Charles, den heiligen Charles”, sagt er und weist auf das große Schild. Fromagerie Saint Charles. Charles liebt Käse. Und als wir ihm von unserer Reise erzählen, ist er nicht mehr zu halten. Er holt Käse um Käse hervor, alle aus der Region, preist jeden mit wohlklingenden Worten an, so dass wir uns nur mit Mühe zurückhalten können, nicht jeden zu kaufen. “Ok Charles”, sage ich nach einer Weile. “Welche Käse müssen wir probieren?”. Er überlegt nicht lange. “Einen Époisses und einen Soumaintrain”, sagt er. “Und dazu”, er kramt unter der Theke, “diesen Wein.” Den mache ein Kumpel von ihm und der verkaufe sogar nach Monaco und an diverse Spitzenrestaurants. “Ich mach euch einen guten Preis.” Und zack ist der Wein auch in der Tüte.

Anne interviewt auf dem Markt von Santenay iim Burgund den Käsehändler Charles

Der heilige Charles und Anna sind in Hochform.

Wir können es kaum erwarten, zurück an Bord zu gehen und zu Mittag zu essen. Der Époisses ist aus Kuhmilch, etwas größer als ein Handteller und steht in einer dünnen, runden Schachtel aus Holz auf dem Tisch. Er riecht und schmeckt sehr intensiv, ja er zählt zu den deftigsten Käsen mit gewaschener Rinde überhaupt. Sein charakteristisches Aroma erhält er dadurch, dass der Salzlake, mit der er ein bis drei Mal pro Woche gewaschen wird, Marc de Bourgogne zugesetzt wird, der Tresterbrand der Region. Und zwar von Woche zu Woche mehr. Wie Charles schon sagte, passt ein Pinot Noir aus der Gegend bestens dazu.

Der Soumaintrain ist ebenfalls aus Kuhmilch aber deutlich milder als der Époisses. Er reift gerade mal zwei Monate und wird während dieser Zeit mit Salzlake und Marc de Chablis gewaschen. “Göttlich”, sagt Anna und schließt genießerisch die Augen. 

Das ist mit Sicherheit die größte Lektion, die uns die Zeit auf dem Hausboot gelehrt hat: Lasst euch ein auf all das, was ihr am Weges- bzw. Kanalrand findet. Und wenn es gut ist, dann nehmt, was ihr kriegen könnt. 

Elf Tage war das unser Zuhause. Du wirst uns fehlen, Saint Jean de Losne!

Ein letztes Mal machen wir nun die Leinen los und nehmen Kurs auf unseren Ausgangshafen, Saint-Léger-sur-Dheune. Erst stehe ich allein an Deck, das nasse Steuerrad in der Hand, es regnet in Strömen. Doch nach und nach gesellt sich ohne Worte die ganze Familie zu mir. Zu fünft stehen wir auf dem Oberdeck im Nieselregen, verabschieden uns von dieser Art des Reisens. Mit gemächlichen sechs Stundenkilometern - schneller will gerade keiner sein - tuckert die Saint Jean de Losne den Canal du Centre aufwärts. In die letzten Schleusen steuern die Mädchen selbst, stolz und aufrecht stehen sie am Steuer. 

Ein letztes Anlegemanöver, ein letztes Mal Seile festmachen. Dann ist die Bootsfahrt auf unserer kleinen Penichette vorbei.

Morgen geht es weiter. Wir haben eine Verabredung zum Mittagessen. Und zwar in der legendären Ferme de la Ruchotte beim nicht minder legendären Frédéric Ménager.




Disclaimer: Wir haben das Hausboot von Locaboat umsonst zur Verfügung gestellt bekommen.

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Froschschenkel bei Frédéric

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Louhans - Wo ist denn nur das Bressehuhn?