Froschschenkel bei Frédéric
Nach elf Tagen auf der Seant-Jean de Losne fällt uns der Abschied schwer und leicht zugleich. Das Hausboot ist uns wirklich ans Herz gewachsen in diesen Tagen. Das Tuckern des Diesels, wenn ich morgens den Motor anwerfe, die Frage, wo wir an diesem Abend wohl festmachen, wen wir kennenlernen werden, die nächste Schleuse…das werden wir vermissen. Das Wetter allerdings wird zu dieser Jahreszeit im Burgund schon recht herbstlich. Es ist kühl und regnet viel. Häufig nutze ich nun nicht mehr den Steuerstand an Deck, sondern lenke das Boot vom Deckshäuschen aus. Deshalb freuen wir uns auf die Wärme der Provence, wo wir als nächstes hinfahren werden.
Heute besuchen wir eine Legende
Davor allerdings haben wir einen Besuch bei Frédéric Ménager geplant. Er selbst wäre viel zu bescheiden, um sich so zu nennen, aber er ist eine Legende unter Frankreichs Köchen. Vor mehr als 20 Jahren kaufte er nach diversen Stationen bei den Besten seines Fachs die heruntergekommene Ferme de la Rouchotte. Sie liegt bei Bligny-sur-Ouche, irgendwo im Nirgendwo des Burgunds. Er begann, Tiere zu halten, Obst und Gemüse anzubauen. In die Gaststube stellte er einen langen Tisch mit 14 Plätzen. Essen kann man bei ihm seit damals nur Mittags. Heutzutage klingt so ein Konzept wie eine Selbstverständlichkeit. Damals aber war Frédéric der Erste, der so dachte und arbeitete.
Und diesen Frédéric werden wir heute kennenlernen. Er erwartet uns um halb eins zum Essen und danach zum Interview. Wir haben das Boot leergeräumt und das Auto gepackt. Die Kinder sitzen angeschnallt auf der Rückbank, angesteckt von unserer Vorfreude, die Adresse ist im Navi eingegeben.
Da steht das Auto. Und bewegt sich keinen Meter mehr.
Ich drehe den Zündschlüssel.
Nichts passiert.
Ich drehe den Zündschlüssel ein zweites Mal.
Motorfehler! Fahrzeug reparieren lassen! leuchtet vor mir auf dem Display auf.
Wir schauen uns an.
Merde!
Der Motor macht keinen Mucks mehr
Wir tätigen zwei Anrufe. Anna meldet sich beim Pannendienst in Deutschland. Ich im Restaurant und erzähle von unserem Problem. Dort hat man Verständnis und meint, ich solle mich in einer Stunde erneut melden, so lange werde man unseren Tisch freihalten.
Es regnet. Wir stehen unter den Kastanienbäumen in dem hübschen kleinen Hafen, wo unser Anbieter Locaboat seine Basis hat. Die Kinder sammeln Kastanien und legen ein riesiges Mandala auf dem Kies. Anna checkt ständig ihr Handy nach einer Meldung vom Pannendienst. Es dauert nicht lange und sie schwenkt lächelnd ihr Telefon: “In 45 Minuten kommt der Pannendienst”, sagt sie. Und tatsächlich. Nach exakt einer Dreiviertelstunde biegt ein knallgelber Abschleppwagen auf den Parkplatz und ein junger Mann steigt aus. Mit einem Lächeln hört er sich meine Geschichte an, bittet mich, die Motorhaube zu öffnen und klemmt zwei Kabel an unsere Batterie. Als ich erneut den Schlüssel drehe, springt der Motor an.
Langweilig wird den Kindern zum Glück nicht. Sie heißen auf ihre Weise den Herbst willkommen.
“Trotzdem solltet ihr die Batterie tauschen lassen”, sagt er. “Wer weiß, was sonst beim nächsten Start passiert.” Er zückt sein Handy und während er seine Sachen zusammenpackt, ruft er bei der nächsten Werkstatt im Ort an, fragt, ob dort die passende Batterie vorrätig ist und kündigt uns für die nächsten Minuten an. Er lächelt, winkt und steigt in seinen Abschleppwagen.
Wenige Minuten später sind wir in der Werkstatt, wo uns der nächste lächelnde junge Mann empfängt. “Ihr seid die mit der Batterie?”, fragt er und hat schon das Werkzeug in der Hand. 20 Minuten später sitzen wir in einem reparierten Auto und nehmen Kurs auf die Ferme de la Rouchotte.
Die Straßen werden immer schmaler
Eine Dreiviertelstunde später erreichen wir Bligny-sur-Ouche. Helle, alte Steinhäuser inmitten eines grünen Waldes, ein kleiner Marktplatz und eine über allem thronende Kirche. Wir folgen der Straße bergauf und zwischen die Bäume. Sie wird schmaler und schmaler, die Schlaglöcher mehr. “Vorsicht!”, schreit Anna, ich reiße das Steuer herum. Hinter einer Kurve schiebt sich ein großer Bagger auf die Straße, das war knapp. Mit regungsloser Miene blickt mich der Fahrer an. Wäre das Leben ein Comic, so könnte ich über seinem Kopf nun sicher die Gedankenblase wieder Touristen auf dem Weg zu Frédéric lesen…
Ein paar Minuten später rollen wir dann auf den kleinen, gekiesten Parkplatz. Von einem makellos blauen Himmel strahlt die Herbstsonne, es weht ein kalter Wind. Direkt neben dem Parkplatz steht der Hühnerstall. Von Hühnern aber keine Spur, etwa 20 Hähne stolzieren umher und krähen. Zwei Hunde, die mir bis zum Oberschenkel reichen, kommen schwanzwedelnd auf uns zu.
Es ist still hier irgendwo im Nirgendwo des Burgund. Und wir haben Hunger!
Außer dem Krähen und dem Bellen ist es - still.
Wir folgen dem allgegenwärtigen Logo der Ferme, einem Totenkopf, und betreten den Gastraum. Rechter Hand steht ein großer Holztisch, in dem alten Kamin ist ein Holzherd untergebracht, in dem ein Feuer flackert. Der Raum ist dekoriert mit Postern von Metal-Musikern, Skateboards, einer Gitarre und wieder dem Totenkpflogo. Von den anderen Tischen blicken uns freundliche Gesichter entgegen. Carole, eine große, schlanke Frau mit dem Tattoo einer Schlange am Hals, kommt uns entgegen, “Ihr seid die mit der Panne, oder? Willkommen!” Sie erklärt uns das Menü, das auf einer großen Tafel angeschrieben ist und sagt, wir könnten zusätzlich als ersten Gang Froschschenkel bekommen. Natürlich wollen wir!
So sieht also eines der legendärsten Gerichte der französischen Küche aus: Froschschenkel, zubereitet von Frédéric Ménager.
Schon bald steht ein flacher, gusseiserner Topf vor uns auf dem Tisch. Darin acht Frösche, die auch tatsächlich noch so aussehen wie Frösche - nur ohne Oberkörper und Kopf. Jeder bekommt einen auf seinen Teller. Und jeder, tatsächlich jeder probiert. Fine und Jakob verziehen das Gesicht - Lotti auch, aber vor Entzücken. Begeistert nagt sie die feinen Knochen ab und gibt sich selbst gleich eine Lektion in Biologie. “Schaut mal, jetzt weiß ich, wie ein Frosch springt”, sagt sie verzückt und bewegt die Beinchen in der Luft auf und ab. Auch Anna und ich sind hin und weg von dem ungewohnten Geschmack, irgendwas zwischen Fleisch und Fisch. Die Zubereitung ist simpel, wie Carole uns erklärt: “Butter, Knoblauch und Petersilie, mehr braucht es nicht.” Schwieriger ist es da schon, an die Frösche heranzukommen. Denn in Frankreich sind Fang und Zucht verboten. Die meisten Tiere kommen tiefgefroren aus Fernost. Frédéric bezieht seine aus der Türkei. Sie kommen lebend in Frankreich an und werden dort geschlachtet. “Wenn irgendein Wirt behauptet, er würde dir französische Frösche servieren, lügt er”, sagt Carole.
Hier gibt es keine große Show - nur gutes Essen
Der nächste Gang. Ein großer Raviolo für jeden, gefüllt mit Fleisch, in einer Brühe, die so intensiv ist, dass sie fast süßlich schmeckt. Jakob löffelt begeistert seine und Lottis Portion. Danach folgt eine Paté, alles ohne Schäumchen und große Inszenierung. Hier geht es ums Essen, nicht um die Show. Vor dem Hauptgang dreht Frédéric eine Runde durch den Gastraum. Sofort mag ich diesen großen, schlanken Mann. Er spricht ruhig und mit leiser Stimme. Die restlichen, grauen Haare auf dem Kopf sind raspelkurz, der Bart unter dem Kinn dafür umso länger. Aus den Ärmeln seines karierten Hemdes ragen bis an die Handgelenke tätowierte Arme. “Geht’s euch gut?”, fragt er leise.
Dann trägt Carole Fleisch auf, dazu Kartoffelpüree. Das Fleisch kommt in einem großen, gusseisernen Topf, den sie in die Mitte des Tisches stellt. Darin verschiedene Teile von Geflügel und Schwein. Alle Tiere lebten hier auf der Farm, alle hatten ein langes und gutes Leben. Das Fleisch ist anders als gewohnt. Es ist fest im Mund und intensiv, es schmeckt nach Tier und Leben und der Liebe des Kochs. Wir müssen die Hände nehmen, es geht nicht anders. Lotti hält in beiden Händen ein riesiges Stück, ihr tropft der Bratensaft vom Kinn. “Ist das gut”, flüstert sie.
Ein simples Gericht. Und in der Artr, wie Frédéric Ménager es zubereitet ein Genuss auf höchstem Niveau.
Ich bin schon lange satt, kann und will aber nicht aufhören. Ich esse alles auf. Auch nur ein Stück liegenzulassen, käme mir vor wie Frevel an den Tieren, die für mich gestorben sind. Danach folgt Käse. Von einem großen Tablett dürfen wir uns so viele Stücke aussuchen, wie wir wollen. Am liebsten würde ich alles probieren, aber das schaffe ich nun wirklich nicht mehr.
Ich lehne mich zurück. Dann kommt der Nachtisch…
“Nimm dein Ego beiseite.”
Als sich der Gastraum leert, kommt Frédéric zu uns an den Tisch. Die Kinder spielen draußen, Anna und ich haben nun die Gelegenheit, ihn zu interviewen. Frédéric antwortet ruhig und bedacht auf jede unserer Fragen. Er ist in diesem Moment ganz bei sich und ganz bei uns. Was es braucht, um ein guter Koch zu sein, will ich von ihm wissen. “Als erstes musst du dein Ego beiseite nehmen. Du als Person bist nicht wichtig. Wichtig ist das Gemüse, ist das Fleisch, ist das Obst. Die Produkte sind wichtig, ohne gute Zutaten kannst du nichts erreichen”, sagt er. Das ganze Interview könnt Ihr bei uns im Podcast nachhören.
Anna im Interview mit einem ganz besonderen Menschen. Danke, lieber Frédéric für Deine Gastfreundschaft, Deine Offenheit und die bleibenden Erinnerungen.
Das Gespräch und dieses Essen, dieses Erlebnis, haben mich tief berührt und bewegt. Irgendetwas in mir ist in Bewegung geraten. Am Ende kaufe ich von Frédéric zwei Dinge. Ein Klappmesser mit einem Griff aus dem Holz des Buchsbaums. Aus demselben Holz ist eine kniehohe, geschnitzte Statue eines keltischen Druiden, die im Gastraum steht. Und eines seiner Bücher. Ich bitte ihn um eine Widmung und er verschwindet für zehn Minuten in der Küche, drückt mir mit einem Lächeln das Werk in die Hände.
“Au revoir”, sage ich und meine das wirklich wörtlich.
Wir werden wiederkommen
Am Abend im Hotel schlage ich die erste Seite auf. Danke für Euer Kommen. 150 Rezepte um ein Leben zu füllen, meines ist es…F. Ménager
Ich blättere durch schwarz-weiß Fotografien, Anekdoten und Rezepte. Hängen bleibe ich an zwei Sätzen: Du musst loslassen. Wenn Du loslässt, dann geschehen die Dinge von selbst…
Meine Finger streichen über den Griff des Messers. Irgendetwas hat an diesem Tag begonnen.