Auf der Suche nach dem wilden Schwein

Das geht nicht gut los. Am Abend vor der Jagd sitzen wir in Caramany im Café Karton bei Kristof am Tresen und ich komme ins Gespräch mit einem alten Herrn. “Also drüben in Rasiguères, da haben wir letztes Wochenende zwölf Wildschweine geschossen. Aber…”, sagt der Mann und nimmt einen Schluck aus seinem Rotweinglas, “…du gehst ja nach Trilla zur Jagd…” Es bleibt unklar, ob der mir sagen will, dass es dort keine Schweine gibt oder ob es die Jäger seiner Meinung nach nicht draufhaben.

Es ist für mich eine Ehre, die Jäger zu begleiten.

Wildschweinjagd hat Tradition im Roussillon. Jetzt im Herbst ziehen die Männer in den Wäldern rund um die Dörfer los, um die Tiere zu erlegen. Es gibt viele, aber leicht zu finden sind sie trotzdem nicht, denn Wildschweine sind schlau. Die Jäger in Trilla, einem Dorf in den Bergen mit 72 Einwohnern, haben mich eingeladen, sie zu begleiten. Eine Ehre, ich bin aufgeregt.

Wir treffen uns in der Morgendämmerung vor einer Baracke am Rande Trillas. Dem Jägerquartier. Sieben Männer und eine Frau haben sich versammelt. Auf den sechsten warten wir noch, auf Guy. Guy ist der Fährtenleser. Das heißt, er fährt mit seinem klapprigen Landcruiser die Straßen ab und sucht nach Spuren der Wildschweine. Heute dauert das. Es wird hell, während wir Kaffee trinken und Gebäck essen, das einer der Jäger mitgebracht hat. “Schießt du auch?", fragt einer der Männer. Ich schüttele den Kopf. Mein Herz klopft, erlegen wir heute tatsächlich ein Tier?

Ein Jäger zeichnet den Plan für die Jagd auf ein Whiteboard

Jagdbesprechung: “Du da, du dort, ich hier und dort lassen wir die Hunde raus!”

Schließlich rumpelt ein sehr alter, irgendwann mal weiß gewesener Geländewagen auf den abschüssigen Platz vor der Baracke. Ihr entsteigt Guy. Guy ist braun gebrannt von einem Leben unter der Sonne des Roussillon. Die restlichen, kurzen Haare auf dem Kopf sind grau und stehen in alle Richtungen ab. Der Rücken ist leicht gebeugt, jahrzehntelang hat Guy sich um seine niedrigen Reben gekümmert. Aber sein Tritt ist sicher, die Hände ruhig und der Blick wach. “Ich habe sie!”, ruft er und sofort beginnt geschäftiges Treiben. Alle reden laut und schnell durcheinander, so dass ich kein Wort mehr verstehe.

Der Jüngste, ein muskulöser Kerl mit dichtem Bart, schnappt sich einen Filzstift und zeichnet auf einem vom jahrelangen Gebrauch grau gewordenen Whiteboard die Umgebung ein. Er legt fest, wer wo auf der Lauer liegen soll und wo der Rabatteur, der Treiber, die Hunde loslassen soll. Ein letzter Schluck Kaffee, dann geht es los. Eine Kollone mit mehreren alten Geländewagen verlässt das Dorf.  

Schnell ist Guys alter Geländewagen nicht mehr unterwegs. Aber er kommt überall hin.

Ich sitze neben Guy. Der Wagen quietscht und rumpelt so laut, dass vermutlich jedes Wildschwein in der Umgebung die Flucht ergreift. “Schau hier”, sagt er und deutet auf aufgewühlte Erde neben der Straße. “Das waren die Tiere in der Nacht." Und das auch”, er deutet auf einen abgebrochenen Zweig vor uns. Mir wäre das alles nicht aufgefallen. Bald biegen wir auf einen Feldweg ab, passieren ein einsames Haus, vor dem eine Frau mittleren Alters herumwerkelt und uns freundlich grüßt. Guy stellt das Auto ab und holt hinter den Sitzen seine Waffe hervor. Herrlich altmodisch, ohne jeden technischen Firlefanz. Guy schiebt zwei Patronen in den Lauf, hängt sich das Gewehr über die Schulter und wir beziehen unseren Posten. Der Blick geht weit über die Berge. Wir sehen die Katharerburg Queribus, das Mittelmeer und ferne Gipfel. Es ist leise und absolut windstill. “Selten”, murmelt Guy. Hundertfünfzig Meter von uns entfernt setzt sich der nächste Jäger auf einen Stein. Seine orangerote Kleidung leuchtet weit. Wir alle tragen solche Warnfarben - ich eine Schutzweste aus dem Auto - damit niemand mit einem Wildschwein verwechselt wird.

Dieser Anblick ist von den Wildschweinen rund um Trilla gefürchtet: Guy mit dem schussbereiten Gewehr.

“Jetzt kommen die Hunde”, sagt Guy, als lautes Bellen ertönt. “Die Wildschweine suchen sich tagsüber ein ruhiges Plätzchen, keine Ahnung wo. Die Hunde sollen sie jetzt aufscheuchen und zu uns treiben”, sagt Guy. Wir hören das Bellen mal hier und mal dort, mal näher und mal ferner. Guy lauscht angestrengt. “Jetzt jagen sie ein Reh”, murmelt er. 

Und mit einem Mal wird das Gebell sehr laut. “Da!”, zischt Guy. Er nimmt das Gewehr von der Schulter, sein ganzer Körper spannt sich an. Vielleicht 100 Meter von uns entfernt sehen wir ein paar Hunde durch einen aufgegebenen Weinberg hetzen. Ein anderes Tier entdecke ich nicht. Guy auch nicht. Er nimmt die Waffe wieder runter und streckt sich.

Die Sonne steigt und es wird warm. Die Hunde hören wir nun in weiterer Entfernung. Sie teilen sich offenbar auf. Das Gebell schallt durch das ganze Tal, das sich neben uns öffnet. So geht es nun weiter, zwei Stunden lang. Guy und ich plaudern ein wenig. Nicht alles, was er sagt, verstehe ich. Der Dialekt hier im Süden kann mitunter heftig sein. Guy sagt weng wenn er vent meint und peng wenn er von pain spricht.

Es ist ein weites, einsames Land, dieses Roussillon.

Er erzählt, dass er im Nachbardorf Ansignan geboren wurde, weil seine Mutter von dort stammte. Aus Trilla hat er es sein ganzes Leben kaum hinaus geschafft. Aber warum eigentlich geschafft? Guy hat geheiratet, zwei Kinder bekommen und seine Weinberge bewirtschaftet. Als er jung war, hatte niemand ein Auto, aber jeder ein Pferd und einen Karren. Lebensmittel kaufte keiner im Supermarkt - selbst heute ist der nächste eine halbe Stunde entfernt - sondern baute sie in einem der Gärten an, die in der Nähe des Dorfes in den windgeschützten, kleinen Tälern liegen. Jeder hielt sich ein paar Schweine. Und ab dem Herbst wurde gejagt, immer schon. “Wir haben immer gut gegessen und gut getrunken”, sagt Guy. 

Im Roussillon wird viel Naturwein gekeltert

Als Winzer wurde es irgendwann schwer. Als ich vor fast 25 Jahren zum ersten Mal nach Trilla kam, fuhr man durch lange Weinberge. In der Cave Cooperative - der Genossenschaft - am Dorfeingang wurde Rotwein gekeltert. Das Gebäude steht noch heute, aber es ist vernachlässigt und schon lange geschlossen. Denn die Qualität der Weine aus dem Roussillon stieg stetig und nicht alle Winzer hatten den Weitblick, dem zu folgen. Viele gaben auf, weil sie für ihre Weine nicht mehr genug Geld bekamen.

So gab es günstig Weinberge zu kaufen und das zog junge, experimentierfreudige Winzer und Quereinsteiger aus aller Welt an. Das Roussillon gilt seit einigen Jahren als Talentschmiede für die wachsende Naturweinszene - also Weine, die mit möglichst wenig Eingriffen gekeltert werden. Das geht hier recht einfach. Die Region ist trocken und gleichzeitig windig. Pilzkrankheiten treten selten auf, gespritzt werden muss also kaum.

Ein letzter Blick in die Runde vor der Mittagspause. Vielleicht hat Guy am Nachmittag mehr Glück?

Zurück zu Guy und mir. Um zwölf werden die Jäger im Dorf zurück erwartet. Das heilige Mittagessen lässt hier keiner ausfallen. Und so zuckt Guy um halb die Schultern, als in der Ferne eine Autohupe ertönt, das Zeichen für die Pause. Er nimmt die Patronen wieder aus dem Gewehr, schiebt es in das Futteral, wir steigen ein und rumpeln zurück nach Trilla. “So ist das eben”, sagt Guy, der überhaupt nicht enttäuscht ist. “Das ist Natur, das sind Tiere.”

Am Abend sitzen wir wieder bei Kristof am Tresen. “Und? Erfolg gehabt?”, fragt er. “Ach weißt du”, antworte ich. “Trilla…”

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Büro unter freiem Himmel

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